Das Ziel der Reise
Mariann Bühler 14.02.2025
Wer darf sich in der Welt wohin bewegen? Über Reisefreiheit und Gerechtigkeit.
Grundsätzlich sollte man nur in die Länder reisen, deren Bewohner*innen auch zu uns in die Schweiz reisen können. Das sagte neulich jemand zwischen Hauptgang und Dessert. Der Aussage folgte eine engagierte bis hitzige Diskussion.
Ein Freund war ganz aufgebracht: Was für ein Blödsinn, gerade das Reisen erlaube uns, die Welt kennenzulernen. Diese Form der Weiterbildung dürfe man nicht beschneiden.
Eine Freundin fügte hinzu, dass man bedenken müsse, dass wir in der Schweiz in einer äusserst privilegierten Situation seien, dass kaum eine Nationalität sich weltweit so frei bewegen könne.
Reisefreiheit und Gerechtigkeit
Dann kam aber wieder das Argument des Reisens zur Völkerverständigung und zur Horizonterweiterung.
Ich gab zu bedenken, dass sich der Horizont durchaus mit Literatur und Filmen erweitern liesse. Und Völkerverständigung, das gehe auch auf der Strasse, im Restaurant, im Zug, an der Kasse im Supermarkt.
Das sei nicht das gleiche, vor Ort würden alle Sinne angesprochen, man bekomme ein umfassenderes Bild, eines das auch duftet und schmeckt. Dazu gehöre, dass man ganz von einer fremden Sprache umgeben sei. Erst so spüre man die Distanz zur eigenen Heimat deutlich genug.
Inzwischen war das Dessert gegessen, der Kaffee getrunken. Einige mussten auf den Zug, bevor wir uns einig werden konnten.
Ich denke ab und zu an dieses Gespräch zurück und werde nicht einmal mit mir selbst einig. Ich habe den Eindruck, zu wenig zu wissen, und frage die grosse Suchmaschine. Wenig später weiss ich: Es gibt – je nach Zählweise – 193 bis 207 Länder. Mit einem Schweizer Reisepass muss man in nur 17 Ländern im Voraus ein Visum beantragen. Umgekehrt müssen Menschen aus 105 Länder ein Visum beantragen, wenn sie für weniger als 90 Tage in die Schweiz reisen wollen. Die weltweite Bewegungsfreiheit ist also alles andere als gerecht verteilt.
Da scheint die Forderung, nur die Länder mit ähnlicher Reisefreiheit zu besuchen, sinnvoll, ein kleiner Beitrag für eine gerechtere Welt. Ich bin also einverstanden. Oder doch nicht?
Verzicht oder Komfortzone
Ich ertappe mich bei einer Selbstzufriedenheit, die mir noch einmal zu denken gibt. In den letzten zwanzig Jahren war ich einmal in Afrika, nämlich in Kairo auf Studienreise mit der Uni. Einmal auf einer lang ersehnten Reise durch die USA. Ich war noch nie in Südostasien oder Südamerika – weil mir, als ich die Zeit dafür hatte, das Geld fehlte. Und weil mir, als ich das Geld hatte, die Zeit fehlte. Das jedenfalls die Geschichte, die ich mir selbst erzähle.
Eigentlich habe ich Angst vor grossen Abenteuern, vor Sprachen, die ich nicht einmal ansatzweise beherrsche, vor einem Klima, von dem ich befürchte, dass ich es nicht gut vertrage, und auch davor, wie ich mich gegenüber Menschen verhalten soll, die viel ärmer sind als ich. Die nicht in die Schweiz reisen können, wenn sie wollen.
Ist mein Nicht-Reisen unter diesen Vorzeichen ein Verzicht, aus klugen politischen Gründen und zum Schutz der Umwelt – oder einfach ein Verbleiben in der Komfortzone? Die Diskussion, das Nachdenken geht weiter. Das Ziel dieser Reise im Kopf ist noch nicht erreicht.
Mariann Bühler ist Autorin und Literaturvermittlerin. Sie schreibt 2025 als Gastautorin für das Pfarreiblatt Sursee.
Foto: Tabea Schimpf/unsplash
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